Ljubow Pribytkowa: WAS WIR LERNEN MÜSSEN… — Sascha’s Welt

Wieder einmal trifft Ljubow Pribytkowa den Nagel auf den Kopf. Doch was tun wir mit den Millionen verblödeten Deutschen, die nicht begriffen haben, wer sie ausbeutet und wer die Kriege anzettelt in aller Welt? Gestern fiel mir ein Büchlein in die Hände: Erich Weinert „Memento Stalingrad“. Darin zitiert der Autor aus Briefen deutscher Soldaten und […]

über Ljubow Pribytkowa: WAS WIR LERNEN MÜSSEN… — Sascha’s Welt

Kriegsvorbereitung — monopoli

Originally posted on Ossiblock: Ich schreibe nun seit fast 3 Jahren gegen den Krieg an, den die Westdeutschen ganz ungeniert vorbereiten. Der 2011 als Schießgelände zurückgestufte, etwa 100 Quadratkilometer große Übungsplatz Jägerbrück bei Torgelow werde wieder heraufgestuft und ausgebaut, sagte sie. Künftig sollen dort neben der Panzergrenadierbrigade 41 Truppen aus Polen üben. Auch mit scharfer…

über Kriegsvorbereitung — monopoli

Wladimir Punin: Wie sich die Situation in der Ukraine im Leben einer Familie widerspiegelt…

Literaturnaja Gazeta lomotjIn einem erschütternden Bericht bringt der ehemalige Oberstleutnant der Sowjetarmee Wladimir PUNIN seine Eindrücke und Gefühle zum Ausdruck, wie sich die Situation in der faschistischen Ukraine auch auf seine Familie ausgewirkt haben. Einst war die große Sowjetunion ein brüderlicher Völkerbund, und unter Lenin und Stalin ein Vorbild des sozialistischen Aufbaus für die ganze Welt, ein Staat der sozialen Gerechtigkerit, des Friedens und des Fortschritts. Nach der Ermordung Stalins und Berijas begann die systematische Zerstörung dieses Riesenlandes, und mit ihm veränderte sich auch das Leben der Völker der Sowjetunion bis hinein in die Familien…

Der abtrünnige Part.

In letzter Zeit habe ich oft vom Krieg geträumt: Man sprengt etwas in die Luft, geht zum Angriff über, erobert bekannte und fremde Anhöhen und Wege, überwindet Hindernisse. Und wenn man dann aufwacht, freut man sich wie ein Kind, daß alles nur ein Traum war und unwirklich ist. Doch später sieht man dann im Fernsehen – Donezk, Lugansk, Mariupol und die brennende Ukraine, dort wo man die letzten 17 Jahre bei der Armee gedient hat. Und dann ist es so, als ob man wieder in diesen schrecklichen Traum eintaucht.

MEINE ERINNERUNGEN

Mein Vater war Politoffizier bei der Infanterie und er erzählte uns oft vom Krieg. Auch von jenen Tagen, als es schwer war, und doch hat niemand die Hoffnung auf den Sieg verloren. Offenbar haben mich diese Erzählungen dazu angeregt, eine militärische Ausbildungseinrichtung zu besuchen. Dort waren wir umgeben von bedeutenden Menschen. Der erste Kommandeur des Truppenteils, wo ich mit dem Offiziersdienst begann, war ein Aufklärer (und übrigens ein Schriftsteller), der Held der Sowjetunion Wladimir Karpow. Während des Studiums lernte ich auch das legendäre Flieger-As Pokryschkin [1] kennen. Und was für ein hinreißender Erzähler und wie bescheiden im Leben war mein Berufskollege – der Held der Sowjetunion Michail Lukaschin, der in einem der Kämpfe persönlich vier deutsche Panzer vernichtet hatte! Uns, den jungen Leutnants, halfen die altgedienten Frontkämpfer sehr bei unserem Dienst.

Schattenseiten

Doch man darf auch die Schattenseiten des militärischen Dienstes nicht vergessen. Zum Beispiel, die Teilnahme an der Entlassung des ersten Sekretärs Lwower Bezirkskomitees der KPdSU (eines gewissen Dobrika), der Ende der siebziger Jahre den Ausgang der Studenten der Universität zum Ernteeinsatz in SS-Uniform zugelassen hat (braune Hemden mit Schulterriemen). Ich mußte persönlich mit einem der Schneider sprechen, die für die Studenten die Naziuniformen herstellten: „Nähen Sie schon lange solche Uniformen?“ und er antwortete: „Ich habe nicht aufgehört. Schon seit 1941 nähe ich.“

In die Vergangenheit zurück…

Das ist es, warum für mich die Zerstörung der Ukraine bei weitem nicht erst heute angefangen hat. Vielleicht lohnt es sich auch nicht, an die alte Zeit zu erinnern, aber was heißt „alte Zeit“, wenn heute vor unseren Augen ein nazistisches Kiew entstanden ist, für das damals so viele russische, ukrainische und tatarische junge Leute ihr Leben geopfert haben (man kann sie gar nicht alle aufzählen). Wir haben gedacht, daß die Völkerfreundschaft ewig halten wird. Und was kriecht da heute alles in der „unabhängigen“ Ukraine hervor?

Der abtrünnige Sohn

Ich habe viele Jahre in der Sowjetischen Armee gedient, war mit ihren Erfolgen und Mißerfolgen fest verbunden, sah Schlechtes und Gutes, aber niemals habe ich meinen Eid geändert. In ebendieser Armee diente zeitweise auch mein Sohn. Doch heute hat Oleg, der in Kirowograd geblieben ist, andere Interessen: Er versucht, sich der neuen ukrainischen „Elite“ anzuschließen, Bargeld und Profit verkleistern seine Augen. Der abtrünnige Part unserer Familie, der in die Nazifalle geriet. Die Entfernung von Kirowograd bis nach Rostow, wo ich jetzt lebe, ist nicht groß, doch wie fern sind wir uns heute geworden…

DAS TARAS-BULBA-SYNDROM

Alles mögliche gab es schon bei uns, aber daß Brüder zu unserer Zeit auf verschiedenen Seiten der Barrikade standen?! Daß der eigene Sohn aus Kirowograd in Rostow anruft und mich „Wattejacke“ [2] nennt, – das hätte ich mir nicht im fernsten Traum gedacht!

Und dann ist noch zwischen mir und dem Sohn eine schwarze Katze hindurchgelaufen, als er mit Begeisterung bemerkte, daß sich der russische Liberale Wladimir Ryshkow [3] nicht ein einziges mal eine Gardeschleife angeheftet hatte. Und daß er (Ryshkow) ein Beispiel für die jungen Ukrainer und auch für die Russen sei. Mein Sohn hat sich auch nicht geschämt, das Ordensband des Urgroßvaters zu beschimpfen, an dem zwei Georgskreuze hingen, die er im Ersten Weltkrieg bekam. Er murmelte etwas über die „Koloradokäfer“ [4]…

Unvereinbare Gegensätze: Vater und Sohn

Ich bereue das – und bin selbst schuld: ich habe es versäumt und ihn nicht aufgeklärt. Und mich nach dem Dienst nicht damit beschäftigt. Ich habe mich überlisten lassen, und aus Oleg ist kein aufrechter Mensch geworden. Vielleicht zeigt sich, daß ich es noch erleben muß, daß der Sohn, der Vorsitzender einer Anwaltskanzlei ist (die das unehrliche Geld der Stinkreichen wäscht), dir erklärt, daß unser gemeinsamer russischer Familienname ihn in seiner Karriere stört! Daß man ihn deswegen nicht zum Staatsanwalt der Stadt ernennen konnte. Daß sein Vater nicht da und dort gearbeitet haben dürfte. Und heute gäbe es doch in der „unabhängigen“ Ukraine andere Orientierungen und andere Werte.

Kann man Menschen korrigieren?

Beim letzten Treffen konnte ich mich nicht mehr zurückhalten und im Zorn platzte ich heraus: „Meinetwegen werden sie dich nicht an die Wand stellen. Obwohl du es für dein kriminelles Tun vollkommen verdient hättest. Dafür, daß du aktiv an der Verblödung der Jugend der Stadt teilnimmst. Dafür, daß du ruhig zugesehen hast, als sie das Kalinin-Denkmal abgerissen haben, das beim Kino stand, wo den ganzen Tag Filme gezeigt wurden, und wo deine Mutter und ich dich nicht „losreißen“ konnten… Haben dich diese Filme wirklich nicht gegen den Westen aufgebracht? Hat sich wirklich in deiner Seele nichts gerührt, als die Politiker eurer Stadt (zusammen mit dir) das Denkmal5 beim Betrieb „Tscherwona Sirka“ [6] (Roter Stern) zerstörten, wo du zu den Oktoberkindern aufgenommen wurdest… Hast du weder in der Schule, noch an der Universität etwas gelernt. In deinem Leben gibt es keinen geraden Weg. Du hast auch keinen Vater mehr. Leider kann man gewissenlose und ehrlose Menschen nicht korrigieren.“

Ich fürchte, von meinen letzten Tiraden hätte ein Stück Papier in Flammen aufgehen können. Und jetzt verstehe ich auch Taras Bulba7, der seinem Sohn Andrej den Verrat nicht verzieh und ihn, der ihn mit Schande brandmarkte, erschoß.

BESSER NICHT STEHENBLEIBEN…

Ich habe dem Sohn nicht erzählt, daß ich insgeheim ohne sein Wissen in der Ukraine war. Was ich dort alles gesehen und durchgemacht habe, würde man seinem ärgsten Feind nicht wünschen. Von Charkow nach Kirowograd habe ich ganze zwei Tage gebraucht. Im Auto, mit dem Fuhrwerk, auf Traktoren, auf Karren, mit denen Silofutter gefahren wurde. Von einem Kontrollpunkt zum anderen. Einmal waren meine Reisegefährten irgendwelche Geologen (sie gaben mich sogar als erfahrenen Kartografen aus). Mit einem Wort, meine Freunde und ehemaligen Berufskollegen (genauer gesagt, deren Söhne) übergaben mich von einem Punkt zum anderen wie einen Staffelstab.

Das Herz klopfte wild…

Unterwegs sah ich viele Soldaten – sowohl erfahrene, als auch jüngere. Ich hatte mich entschieden, mich nicht an Gesprächen zu beteiligen. Wenn ich etwas gefragt wurde, habe ich versucht, mich „in der ukrainischen Gaunersprache“ [8] zu verständigen, oder wurde für einen Taubstummen gehalten. Sie winkten mir mit der Hand: der arme Schlucker, was ist denn dem widerfahren. Den Polizisten gingen wir aus dem Weg. Ich bin durchaus nicht ängstlich, aber wenn uns hinterher geschossen wurde, brach mir der Schweiß aus, und (warum soll ich das verschweigen) das Herz klopfte wie nach nach einem Hundertmeterlauf. Einmal hat man uns bei einem Blockposten zur Überprüfung festgehalten. Die Wachposten schleppten uns zu ihrer Hütte, doch wir sind durch das Gestrüpp ausgerissen. Aus irgendeinem Grund haben sie uns nicht zurückgeholt.

Einmal sind wir in einen Güterzug gestiegen. Als wir uns an Bord der leeren Plattform ausstreckten, habe ich den Reisegefährten zugeflüstert: wenn wir nicht bis zur Station fahren, ich kann nicht abspringen, habe mir den Fuß verstaucht. Aber alles ist gutgegangen, ich habe Glück gehabt…

Auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz…

Und so werde ich mit dem Auto zur Ortschaft Bobrinez gebracht, von wo aus es bis nach Kirowograd noch 40 km sind. Hier bat ich die Jungs, mich zum Schießplatz zu bringen, den ich einst mitgebaut hatte, als ich stellvertretender Kommandeur der Sondereinheiten war. Es war schon Abend geworden. Die Freunde drückten mir das Fernglas in die Hand und machten mich auf einen herankommendes Gefangenentransportfahrzeug aufmerksam. Ich dachte: jetzt werden wir sehen, wie die Soldaten beginnen, auf die beweglichen Zielscheiben zu schießen, und nach der Lage der Treffer kann man feststellen, wer zu weit rechts oder links ist. Wer gut schießt, und wer nicht. Die professionelle Leidenschaft eines alten Soldaten kann man nicht einfach ablegen. Aber wie groß war mein Erstaunen, als aus dem Fahrzeug nicht Soldaten, sondern etwa zehn gekrümmte Personen mit verbundenen Händen herausgeführt und in die Grube gestoßen wurden, wo einst unsere Soldaten Champignons sammelten! Wir sahen nur noch die Wachleute mit ihren Maschinenpistolen. Plötzlich kam hinter einen Vorsprung des Wächterhäuschens eine Planierraupe angefahren. Zweimal schob sie Erdhaufen vor sich her und – begrub die gefesselten Menschen unter der Erde!

Es war ein Gefühl wie im Kino. Ich fragte noch den neben mir Sitzenden: „Was ist mit den Menschen, die in den Graben gefallen sind?“ Und ruhig wurde mir geantwortet: „Sie haben sie begraben. Das ist schon nicht mehr der Ihnen bekannte Übungsplatz. Das ist ein ‚Wirtschaftsgelände‘ der Regionalverwaltung für Innere Angelegenheiten. Sie machen dort, was sie wollen.“

Es wäre besser, wir bleiben nicht hier…

In Kirowograd haben wir dann beim Gebäude der ehemalig Gebietsverwaltung haltgemacht. Ich wollte das Kirow-Denkmal9 sehen. Davor wurden einst die jungen Soldaten unserer Brigade vereidigt. Die ganze Stadt liebte dieses feierliche Ritual! Doch jetzt war nichts mehr davon zu sehen. Das Denkmal für Sergej Mironowitsch wurde abgerissen, und auf den Sockel haben sie die Losung geschmiert: „Russen raus aus der Ukraine!“ Daneben befand sich einst ein Buchladen für Kinderbücher. Davon sind nur verbrannte Bretter übrig, Müll und herausgerissene Regale.

Zurück nach Rußland

Das ist alles. Schnell nach Hause, nach Rußland! In der Tasche habe ich zwei Pässe. Der eine wurde 1982 ausgestellt, als ich aus der Armee entlassen wurde, dort ist auf der ersten Seite eine Eintragung in ukrainischer Sprache. In Snamenka, wo wir von einer Patrouille angehalten wurden, hatten wir verstanden: den zweiten Paß mit der Rostower Anmeldung darf man keinesfalls vorzeigen. Aus Versehen werden sie auf das Auto eine Granate werfen – Fremde werden hier nicht geduldet, Ausländer sind gefürchtet und verhaßt. Die ausgebrannten Überreste der Autos, die den neuen „Herren über Leben und Tod“ nicht gefielen, konnte man überall sehen.

Das letzte Stück des Weges sind wir auf einer Lok mitgefahren (die offenbar nach Nowotscherkassk zur Reparatur fuhr). Vor der russischen Grenze stiegen wir aus und gingen zu Fuß weiter. Meine frühere sportliche Kondition kam mir im Alter zugute. Sieben Kilometer bis zu „unserer“ Elektritschka (Regionalbahn) sind wir gerannt, wie einst in der Ausbildung – beim Härtetest. Wie ich war ich froh über die Kleingärtner, als ich mich in den Zug setzte! Endlich Russen!

Der 80. Geburtstag

…Vor kurzem bin ich 80 Jahre alt geworden. Der Sohn hat all seinen „Mut“ zusammengenommen, und beschlossen, mir zum Geburtstag zu gratulieren. Ich bin nicht ans Telefon gegangen (meine Frau sprach mit ihm) – der Hörer war für mich in diesem Moment wie eine Giftschlange.

Dann bin ich auf den Balkon hinausgegangen – ich konnte nicht atmen, kriegte keine Luft mehr, wollte niemanden mehr sehen… Warum hält der Sohn mich für einen Okkupanten? Es ist schlimm. Und wie denkt meine Frau darüber, die Mutter Olegs? Sie ist, wie auch die Frau von Taras Bulba, oft hat sie nachts am Bett bei dem schlafenden Kind gesessen und ihm mit dem Kamm die wirren Locken aus dem Gesicht gestrichen. Sie konnte nicht ahnen, welche verwirrten, furchtbaren und verräterischen Gedanken in diesem Kopf reifen. Sie kann nicht verstehen: Warum hat ihr Junge nur solche Scheuklappen vor den Augen? Bleibt nur zu hoffen, daß sich die Leidenschaften legen und einmal hellere Tage kommen werden…

Wir werden leben…

Als ich zu meinem Geburtstag auf dem Balkon stand, schien es mir, als ob ich aus den finsteren Gedanken nicht herauskomme. Doch dann riefen mich die Gäste, und meine Frau bat uns alle an den Tisch… Die Enkelin telefonierte, gratulierte mir und sagte: der Großvater (das bin ich!) ist für sie doch der Beste. Und ich dachte: Wenn uns die Enkel nicht vergessen – dann werden wir leben!

Wladimir PUNIN, Oberstleutnant i.R., Rostow am Don.

Quelle: http://lgz.ru/article/-35-6523-9-09-2015/otrezannyy-lomot/
(Mit freundlicher Genehmigugn übernommen von Kommunisten-Online)


Anmerkungen:
[1] Alexander Iwanowitsch Prokryschkin (1913-1985), berühmter sowj. Jagdflieger während des Großen Vaterländischen Krieges; erster dreifacher Held der Sowjetunion, stammte aus einer einfachen Arbeiterfamilie.
[2] „Wattejacke“ – ein Schimpfwort, mit dem die ukrainischen Nazis die Russen bezeichnen.
[3] Wladimir Ryshkow – liberaler russischer Politiker. Man rechnet ihn zur „5.Kolonne“ in Rußland. Aus seiner Begeisterung für Pinochet macht er keinen Hehl.
[4] „Koloradokäfer“ (Kartoffelkäfer), eine zynische Bezeichnung der heutigen ukrainischen Nazis für die Träger der symbolischen Gardeschleife in Erinnerung an die heldenhaften Gardesoldaten während des Großen Vaterländischen Krieges, die als Schädlinge betrachtet werden, die man vernichten muß.
[5] Denkmal für die Helden der Roten Armee, die Kirowograd im Januar 1944 von den Faschisten befreit haben.
[6] «Червона Зірка» (ukr. Roter Stern) – ein Betrieb für Landmaschinenbau in Kirowograd.
[7] Taras Bulba – Titelheld einer Errzählung des russischen Schriftstellers Nikolai Gogol. In einem Kampf der Kosaken gegen die Polen erschießt der Vater den zum Verräter gewordenen Sohn.
[8] «ботать по украинской фене», ukrainische Gaunersprache, kommt aus dem Neuhebräischen und Jiddischen und wird von der Polizei nicht verstanden.
[9] Sergej Mironowitsch Kirow (1886-1934), russ.Revolutionär und im Volk beliebter 1. Sekretär des Leningrader Gebietskomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion; 1934 von weißgardistischen Banditen ermordet.

Gefährliche Halbbildung in der BRD

Aus: Ausgabe vom 25.08.2016, Seite 12 / Thema

Über die rabiate Mittelmäßigkeit eines entkultivierten Bürgertums

Von Herbert Schui
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Bildung verkümmert zu ökonomisch verwertbarem Wissen, die Spaltung von Leistungsträgern und Überflüssigen ist unübersehbar (im Hintergrund Absolventen der Bonner Universität)

Herbert Schui: Politische Mythen und elitäre Menschenfeindlichkeit. Halten Ruhe und Ordnung die Gesellschaft zusammen? VSA-Verlag, Hamburg 2014, 128 Seiten, 12,80 Euro (wird im Herbst neu aufgelegt)

Am 14. August verstarb der profilierte Kapitalismuskritiker, der Ökonom und Politiker der Partei Die Linke, Herbert Schui, im Alter von 76 Jahren. Wir möchten seiner gedenken und sein Schaffen würdigen, indem wir an dieser Stelle das letzte Kapitel seines 2014 bei VSA erschienenen Buchs »Politische Mythen und elitäre Menschenfeindlichkeit« veröffentlichen. Wir danken dem Verlag für die Genehmigung des Abdrucks. (jW)Die Verhältnisse nicht als Ergebnis natürlicher Gesetzmäßigkeit wahrzunehmen, erfordert mehr als berufliche Qualifikation. Allgemeine Bildung ist notwendig. Sie ist (und sie war stets) eine wichtige Voraussetzung für Opposition. Denn wie sonst wird eine Mehrheit dazu kommen können, es – beispielsweise – eine Absurdität zu nennen, wenn aufgrund des technischen Fortschritts zwar in einer Arbeitsstunde immer mehr hergestellt werden kann, gleichzeitig aber die Armut zunimmt? Und wie sonst soll genug Druck entstehen, damit dem Klimawandel wirksam entgegengearbeitet wird? Alles sieht danach aus, dass besonders Halb­bildung eine solche Opposition verhindert.

Der Emanzipation verpflichtet

Das Verständnis von Bildung als Merkmal des Bürgertums nimmt im 18. Jahrhundert seinen Anfang. Gegenwärtig sagen sich die »Leistungsträger«, besonders die obere Statusgruppe, umso mehr »Bildungsnähe« nach, je höher ihr Einkommen ist. »Die Qualitäten, die dann nachträglich den Namen Bildung empfingen, befähigten die aufsteigende Klasse zu ihren Aufgaben in Wirtschaft und Verwaltung. Bildung war nicht nur Zeichen der Emanzipation des Bürgertums, nicht nur das Privileg, das die Bürger vor den geringen Leuten, den Bauern, voraushatten. Ohne Bildung hätte der Bürger, als Unternehmer, als Mittelsmann, als Beamter und wo auch immer kaum reüssiert.«¹

Am Beginn seiner historischen Karriere ist der gebildete Bürger, das Bildungsbürgertum, der Emanzipation verpflichtet: seiner eigenen und der seiner Klasse. Seine auf Erkenntnis gerichtete Tätigkeit widerspricht nicht der Ideologie des aufstrebenden Bürgertums. Es gibt eine organische Übereinstimmung, weil das »Vorgehen der praktischen wissenschaftlichen Forschung und jenes der aufsteigenden politischen Klasse einander entsprechen«.²

Dieses goldene Zeitalter, wie Sartre es nennt, diese organische Übereinstimmung kann so lange andauern, wie sich das Bürgertum gegen die feudale Herrschaft richtet. Indem sich aber mit dem Bürgertum eine Arbeiterklasse herausbilden muss – ohne sie kann es keinen Kapitalismus geben – kann das Bürgertum nicht mehr die universelle Klasse sein. Ihr Interesse steht dem Interesse der Arbeiterklasse entgegen. Damit muss sich ein gesellschaftlicher Gegensatz herausbilden, der eine Stellungnahme erfordert – indem er geleugnet oder indem Partei ergriffen wird. Die organische Übereinstimmung jedenfalls ist dahin.

Techniker des praktischen Wissens

Der (für seine Epoche fortschrittliche) Bildungsbürger des 18. Jahrhunderts wird ersetzt durch den Techniker des praktischen Wissens. Dieser soll im Gegensatz zu seinem Vorfahr die herrschende Gesellschaftsordnung – damals den Feudalismus – nicht in Frage stellen. Der seit einigen Jahrzehnten vorherrschende Sprachgebrauch verdeutlicht dies. Öffentliche Bildungsausgaben heißen Bildungsinvestitionen. Dieser Ökonomismus der Sprache – eine Investition muss sich rentieren – will jede andere Bildung ausschließen, alle Bildung, die nicht der unternehmerischen Rentabilität dient. Folglich werden Bildungsinvestitionen gefordert, um das Humankapital, das wirtschaftlich verwertbare Menschenmaterial zu vergrößern. Dieser Begriff degradiert nicht nur Arbeitskräfte in Betrieben, sondern macht den Menschen allgemein zu einer nur noch ökonomisch interessanten Größe. (Mit diesem Argument wurde »Humankapital« 2005 zum Unwort des Jahres.) Hierher gehört auch das mittlerweile geflügelte Wort von den Arbeitskräften als »Kostenstellen mit zwei Ohren«, das vor längerem von einem Manager in Umlauf gesetzt worden ist.

Die Techniker des Wissens rekrutiert die Unternehmerschaft nach ihrem Bedarf. Dies schließt den öffentlichen Dienst mit ein, soweit er der Privatwirtschaft zuarbeitet, oder soweit er – zunehmend – selbst unternehmerisch organisiert wird. Damit werden die Verhältnisse klar: »Die Industrie will die Universität unter ihre Kontrolle bringen, um sie zu zwingen, den alten, überholten Humanismus aufzugeben und ihn durch Spezialfächer zu ersetzen, die den Betrieben Umfragespezialisten, höhere Angestellte, Werbefachleute etc. liefern. (…) Die herrschende Klasse richtet die Lehrinhalte so aus, dass ihnen a) die Ideologie, die sie für angebracht halten (Primar- und Sekundarstufe), b) die Kenntnisse und Praktiken, die sie zur Ausübung ihrer Funktionen befähigen werden (Hochschule), vermittelt werden.«³

Das ist der Zweck der »Entrümpelung« der Lehrpläne, der komprimierten Bachelor- und Master-Studiengänge, der Modularisierung des Studiums, der Verkürzung der Schulzeit an den höheren Schulen. Was in diesen Bildungsbereichen durchgesetzt wird, gilt auch für Haupt- und Berufsschulen. Die Technik besteht hierbei nicht einzig in aktiver ideologischer Unterweisung, sondern ebenso sehr in Unterlassung – oder darin, dass Lehrmaterial benutzt wird, das von den Bankenverbänden oder vom Bundesverband der Deutschen Industrie bereitgestellt wird. Dieses Schema verlangt von den Studierenden zu wissen, welche Arbeit die privaten Unternehmen und auch der Staat nachfragen. Diese Nachfrage leiten sie an die Bildungseinrichtung weiter.

Konforme Lehrpläne

Die Universitäten, ihrerseits neu organisiert wie Unternehmen, werden von dieser Nachfrage gesteuert: Sie bieten an, was die Studierenden im Auftrag ihrer künftigen Chefs nachfragen. Die Produkte der Universitäten wiederum brauchen ihren Input. Hochschullehrer sind hiervon ein wesentlicher Teil. Geben die Studierenden ihr Bild vom (erahnten) Ratschluss ihrer künftigen Chefs weiter, streben sie ohne Fragen zur neuen oder bürgerlichen Mitte, so wie ihre Mittelschichtsozialisation dies nahelegt, dann wollen sie fachkundige, willige und flexible Mitarbeiter werden, gewerkschaftlich nicht organisiert, politisch unauffällig und konform. Ängstlich werden sie darauf bedacht sein, sich mit nichts zu beschäftigen, zu infizieren, was nicht gefällt. Der Input von Hochschullehrern der Universitäten richtet sich danach: Radikalenerlasse und Berufsverbote sind nun nicht mehr nötig, um Kritik, womöglich Gefahren für den Kapitalismus abzuwehren, die sich in einem intellektuellen Universitätsklima entwickeln könnten. Die Auswahl der Hochschullehrer sorgt dafür, dass die Studierenden nichts zu hören bekommen, was sie nicht nachgefragt haben.

Ebenso, wie der künftige Personalchef wahrscheinlich nicht danach fragen wird, was denn die gesamtwirtschaftlichen Ursachen von Arbeitslosigkeit sind, werden sie nicht darauf aus sein, diese Gründe von den Hochschullehrern zu erfahren. Doch selbst wenn es zum künftigen Berufsbild gehören sollte, sich hiermit zu befassen, oder ganz allgemein interessiert: Die Wirtschaftstheorie hält hier die mit sophistischen Arabesken ausstaffierte Trivialität bereit, dass Arbeitslose angesichts ihrer Fähigkeiten eben zu hohe Löhne fordern.

Damit verliert die Aura des Bildungsbürgers ihren Glanz: Halbbildung – konzentriert auf das Fortkommen im Beruf – ist das Ergebnis. Der Techniker des praktischen Wissens kommt in der Regel, das beweisen unverändert die Untersuchungen zur sozialen Mobilität, »aus der mittleren Schicht der Mittelklassen, wo man ihm von früher Kindheit an die partikularistische Ideologie der herrschenden Klasse eintrichtert (…) Von Kindheit an verbirgt man ihnen hinter der Fassade des Humanismus die wirkliche Situation der Arbeiter und Bauern sowie den Klassenkampf.«4 Dies strahlt von den Universitäten, von den Technikern des praktischen Wissens (den Leistungsträgern) in der Ausübung ihres Berufes aus auf ihren Mythos. Wer in diesen Stand aufsteigt, in ihn erhoben wird durch Politikerreden, und daran glaubt, legt sich diese Einstellung zu. Die Neigung zu Mythen wird durch diese Halbbildung gefördert. Sie lässt aus Gründen der ideologischen Zuverlässigkeit der Leistungsträger, der Funktionselite nur begrenzt Einsichten als Ergebnis von Bildung zu. Der allfällige Wunsch nach Erkenntnis wird vom Mythos zufriedengestellt.

Leistungsträger als Eigentümer von Humankapital, das als Rendite Lohneinkommen einbringt, können sich zur besitzenden Klasse zählen, so wie andere, die Realkapital (Produktionsmittel) zum Eigentum haben und Gewinneinkommen beziehen. Der Wert des jeweiligen Kapitals ist bestimmt durch das zukünftige Einkommen aus diesem Kapital. Sehen sie ihre Lage so, dann kann kein gesellschaftlicher Gegensatz mehr wahrgenommen werden, der vom Eigentum an Produktionsmitteln bestimmt wäre. Dann gibt es nur noch einen gesellschaftlichen Gegensatz zwischen dem Kapitaleigentümer und dem Habenichts. Dieser lebt auf Kosten der Eigentümerschicht und muss von dieser streng beaufsichtigt werden: Bekommt er zuviel, strengt er sich an, ist er ein würdiger Armer? Bei dieser pädagogisch motivierten Aufsicht aber bleibt es nicht.

Elitäre Menschenfeindlichkeit

Die empirische Sozialforschung weist zunehmend elitär motivierte Menschenfeindlichkeit nach. Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer spricht von einer »strikte(n) Trennung zwischen Gewinnern und Verlierern«, einer »Dichotomie von Leistungsträgern und Überflüssigen«.5 Hierbei wertet die obere Statusgruppe die schwachen Gruppen am stärksten ab. (Hierzu mag die Tradition der Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit beitragen.) Die ökonomisierte Gesellschaft ist der Nährboden für elitär motivierte Menschenfeindlichkeit.

Unterstützer anti TTIP & CETA

Es ist nun nicht mehr die Herrenrasse des Faschismus, die Menschen aussondert, sondern das entkultivierte, rabiate Bürgertum. Es verrät sich durch seine Sprache. Adorno verweist auf Karl Korn: »Die Sprache des Angebers ist geradezu die Ontologie von Halbbildung«.6 Hierher gehört auch, wie stolz die Leistungsträger ihre »Vielbeschäftigtheit und Überlastung« zur Schau tragen – oder die Wendung von der »hart arbeitenden Mittelklasse«. Deren Überheblichkeit mag auch ihre Stütze haben in nebelhaften Resten der Prädestinationslehre: Der wirtschaftlich Erfolgreiche ist von Gott auserwählt. Abwertende Begriffe wie »Wutbürger« oder »Gutmenschen« können die Menschenfeindlichkeit weiter illustrieren.

Wenn nun Bildung nichts weiter ist als ökonomisch verwertbares Wissen in der vorherrschenden allgemeinen unternehmerischen Lebenspraxis, dann betreibt der Halbgebildete Selbsterhaltung ohne Selbst. Was Bildung an Erfahrung, Begriff und Urteil ermöglichen könnte, »wird ersetzt durch die punktuelle, unverbundene, auswechselbare und ephemerische Informiertheit, der schon anzumerken ist, dass sie im nächsten Augenblick durch andere Informationen weggewischt wird«.7 Urteil stützt sich zu häufig nicht auf umfassende Information, ganz wie in Wildwestfilmen kommt es allzu oft nicht über die grobe Einteilung zwischen Gut und Böse hinaus – oft getragen von theologisch nicht identifizierten Rudimenten christlicher Normen, die vom Hörensagen stammen oder aus der Grundschule. Nachdenken über eine Sache, notwendige Abstraktion wird ersetzt durch moralisches Urteil. Krieg wird als humanitäre Intervention verstanden, Dreinschlagen wird dem Versuch von Verhandlungslösungen vorgezogen. Ähnlich einfältig (und nicht selten aggressiv) die Urteile zur Arbeitslosigkeit, zur veränderten Altersstruktur der Bevölkerung oder zur Staatsverschuldung. Die Politik der Bundesregierung gegenüber Griechenland ist ein Beispiel für Aggressivität. Eine wirkliche Lösung der Frage wäre auch im gegebenen institutionellen Rahmen möglich gewesen. Durchgesetzt hat sich eine Art schwarzer Pädagogik, um – ohne Erfolg – zu einem ausgeglichenen Staatshaushalt zu kommen.

Anerzogene Dummheit

Im Zusammenhang von Krieg und Frieden erklärt Alexander Mitscherlich diese Haltung als das Ergebnis von hergestellter Dummheit. Zwei Faktoren stünden einer Entwicklung größerer Friedlichkeit im Weg: »Die leicht weckbare Feindseligkeit des Menschen gegen seine Artgenossen und die, wie man zu sagen pflegt, unausrottbare Dummheit.« Eigentlich, so Mitscherlich weiter, bestünde die »Zielvorstellung aller Kulturen, sobald das nackte physische Elend überwunden ist, (…) in der Milderung der feindseligen und zerstörerischen Formen von Aggression durch Förderung ausgleichender seelischer Kräfte wie Mitgefühl, Verständnis für die Motive des anderen und ähnliches. Dieser Förderung steht die Dummheit im Wege. Ich meine damit nicht die Begabungsdummheit, sondern die anerzogene Dummheit, die sorgfältig durch Erziehung zu Vorurteilen herbeigeführte Dummheit.« Diese ersetze bei Konfliktlösungen die kritische Reflexion durch Erregung und Vorurteil. »Vor allem zeigt sich eine verstärkte Unfähigkeit, eigene Probleme unbestechlich zu betrachten.«8

Es liegt auf der Hand, dass dies nicht nur für den Verkehr unter Nationen gilt, sondern auch für das Verhältnis zwischen Individuen und Menschengruppen. Das Lancieren politischer Mythen ist die »Anerziehung von Dummheit«. Dies fördert Aggressivität, elitär motivierte Menschenfeindlichkeit und verhindert die Herausbildung ausgleichender seelischer Kräfte als Merkmal einer Kultur, die das nackte physische Elend überwunden hat. Aber nicht nur das wird verhindert. Dummheit und Vorurteil erschweren es, scheinen es gegenwärtig unmöglich zu machen, den technischen Stand der Entwicklung zu nutzen für zivilisatorischen Fortschritt. Sicherlich: Der Faschismus lieferte, so Eric Hobsbawm, »den Beweis, dass der Mensch ohne die geringsten Schwierigkeiten völlig irrsinnige Glaubenssätze über alles und jedes in der Welt mit meisterhafter Beherrschung der Hochtechnologie seiner Zeit verbinden kann«.9 Diese meisterhafte Beherrschung diente der Massenvernichtung und dem Krieg. Für die Gegenwart sieht es zivilisierter aus. Aber dennoch ist es offenbar nicht möglich, die gegenwärtige Hochtechnologie zu nutzen, um der Massenarmut allgemein, ja selbst in den Industrieländern Herr zu werden. Statt dessen wird der Armut mit Aggressivität begegnet. Ist es der Glaube an die natürlichen, ewigen Gesetzte der Wirtschaft?

Wo kann die Lösung sein? In der Weigerung, sich Dummheit anerziehen zu lassen; darin, aus der öffentlichen Meinung ein legitimes Instrument der Kontrolle zu machen, was voraussetzt, die vorherrschende öffentliche Meinung ihrerseits danach zu prüfen, wie sie es mit der Wahrheit hält. Grundlage hierfür ist Bildung und – als Ergebnis – gemeinschaftliche Aktion, ohne die sich nichts verändert, nichts verhindert werden kann. Wer kann gebildet genannt werden? Mitscherlich hat hierauf eine verblüffend einfache Antwort: »Der gebildete ist als ein Mensch zu charakterisieren, der seine jugendliche Ansprechbarkeit auf Neues und Unbekanntes behalten hat. Er ist auf der Suche nach Wissen und nach den Methoden, Erfahrung zu prüfen.«10 Eigenschaften dieser Art sind unabhängig von der sozialen Schicht. Der gebildete Mensch ist kein Bildungsphilister, der es etwa mit einiger Mühe dazu gebracht hat, ein ergriffenes Gesicht zu ziehen, wenn er klassische Musik hört. Er ist kein engstirniger, kleinbürgerlicher Mensch. Damit ist der Begriff der Bildung nicht mehr eins mit dem, was etwa an höheren Schulen oder Universitäten gelehrt und gelernt wird. Dennoch schließt er diese Einrichtungen nicht aus, obwohl die Frage zu prüfen ist, inwieweit die bürgerliche Sozialisation, die Bildungseinrichtungen einen sehr engen Rahmen vorgeben für das, was als Neues und Unbekanntes überhaupt Neugier wecken darf. Es gibt reichlich Tabus, die sozialen Gehorsam erzwingen sollen, Dinge also, über die »man« nicht spricht. (Deutlich wird bei Mitscherlichs Verständnis von Bildung ein weiteres Mal, wie sehr der Begriff der Bildungsinvestition in die Irre geht.)

Objektive Intelligenz

Worauf es ankommt, wenn die Vernunft eine Chance haben soll, hat Sartre in dieser Weise umrissen: »Die ausgebeuteten Klassen – auch wenn ihre Bewusstseinswerdung variabel ist und sie von der bürgerlichen Ideologie tief durchdrungen ist – zeichnen sich durch ihre objektive Intelligenz aus. Diese Intelligenz ist keine Gabe, vielmehr entsteht sie aus ihrem Blickwinkel, dem einzigen radikalen, auf die Gesellschaft: unabhängig von ihrer Politik (die Resignation, Würde oder Reformismus sein kann, je nachdem, wie weit die objektive Intelligenz von den Werten, die ihnen die herrschende Klasse beigebracht hat, überlagert und durcheinandergebracht wird). Dieser objektive Gesichtspunkt produziert ein Denken der Massen, das die Gesellschaft vom Grundsätzlichen her betrachtet, das heißt, von der niedrigsten Stufe aus. (Es ist) die Sicht der erlittenen Gewalt, der entfremdeten Arbeit und der elementaren Bedürfnisse.«¹¹

Objektive Intelligenz aus der Erfahrung und der Verallgemeinerung der eigenen Lage, der besondere Druck der Realität, der diese gesellschaftliche Klasse ausgesetzt ist, ist dazu angetan, die Suche nach Wissen zu fördern und nach Methoden zur Prüfung der eigenen Erfahrung. Weil diese Bildung Klarheit schafft über diejenigen Ursachen der eigenen Lage, gegen die die einzelnen durch individuelles Handeln nichts ausrichten können, schafft diese Bildung ein gemeinschaftliches Bewusstsein. Das wäre der Anfang einer Veränderung. Sartre ist optimistisch: »Und jeder, selbst wenn er es nicht weiß, strebt diese Bewusstwerdung an, die es dem Menschen erlauben würde, diese wilde Gesellschaft, die ihn zum Monstrum und zum Sklaven macht, in den Griff zu bekommen.« ¹²

Sartre hat sein Plädoyer für die Intellektuellen vor gut 40 Jahren geschrieben. Einstweilen haben sich die Verhältnisse noch nicht zum Guten verändert. Widerspruch macht sich dennoch allenthalben breit. Um einige Beispiele zu nennen: In den Städten arbeiten Initiativen gegen hohe Mieten und Gentrifizierung, Volksabstimmungen werden durchgesetzt, die die Energie- oder Wasserversorgung wieder zu Gemeineigentum machen, in den einzelnen Wissenschaften gründen sich Vereinigungen für mehr Pluralismus, Umweltverbände leisten energisch Widerstand, der Konformismus der sozialdemokratischen Parteien hat zur Gründung von Parteien geführt, die politisch weiter links stehen. Das kann belegen: Die Vorstellung Mitscherlichs von Bildung als Ansprechbarkeit auf Neues oder die Idee Sartres von der objektiven Intelligenz existieren weiter.

Der Veränderung, einer Besserung der gesellschaftlichen Lage stehen die Ideologie und die Lebenspraxis der rabiaten Mittelschicht, des entkultivierten Bürgertums entgegen. Beides, Ideologie und Praxis, werden durch Mythen weiter gefördert. Sie werden umso abstruser, je absurder die Verhältnisse sind. Dennoch haben diese Mythen Erfolg in ihrem objektiven Zweck, die gegebenen Machtverhältnisse, die vorherrschenden wirtschaftlichen Absurditäten zu bewahren.

Auch wenn viele aus der Mittelschicht hierunter leiden durch Stress bei der Arbeit, durch stets drohende Entlassung bei Leistungsabfall: Solange sie sich beim Verständnis der Wirklichkeit von den Mythen leiten lassen, steht alles dafür, dass Selbstgefälligkeit, Intoleranz und Aggressivität der Mittelschicht zunehmen. Was besorgt macht, das sind nicht einzig die bekennenden Neofaschisten. Vielmehr ist daneben eine Veränderung am Werk, die sich mit den überkommenen Begriffen des historischen Faschismus nicht unmittelbar erfassen lässt.

Anmerkungen

1 Theodor W. Adorno: Theorie der Halbbildung. Frankfurt/Main 2006, S. 17

2 Jean-Paul Sartre: Plädoyer für die Intellektuellen. Interviews, Artikel, Reden 1950–1973. Reinbek 1995, S. 98

Jean-Paul Sartre: »Plädoyer für die Intellektuellen«, in: Ders., Gesammelte Werke. Bd. 6: Politische Schriften. Reinbek bei Hamburg 1995, S. 98

3 ebenda, S. 100. Die überaus vielen Studiengänge in »Business Psychology« sind
hierfür ein Beispiel mit ihrer Ausbildung für Personalmanagement, Marktforschung
oder Personalberatung

4 ebenda, S. 101

5 Eva Groß, Julia Gundlach, Wilhelm Heitmeyer: »Die Ökonomisierung der Gesellschaft. Ein Nährboden für Menschenfeindlichkeit in oberen Status- und Einkommensgruppen«, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.): Deutsche Zustände. Folge 9, Frankfurt/Main 2010, S. 140 f.

6 Adorno, Halbbildung, a. a. O., S. 48

7 ebenda, S. 50 f.

8 Alexander Mitscherlich: Über Feindseligkeit und hergestellte Dummheit – einige andauernde Erschwernisse beim Herstellen von Frieden. Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1960. Hamburg 1993, S. 14 f.

9 Eric Hobsbawm: Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. München 1995, S. 155

10 Alexander Mitscherlich: Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft, Ideen zur Sozialpsychologie. München 1963, S. 26

11 Jean-Paul Sartre, a. a. O., S. 119

12 ebenda, S. 128

Gefahr für die Welt US-Drohungen gegen syrische Luftwaffe

Von Arnold Schölzel

Seit 2011 ist Syrien Schlachtfeld eines von den USA, ihren Verbündeten in der NATO und in den Golfdiktaturen angeheizten Krieges. Die Bundesrepublik war mit dem BND, der nach dem 11. September 2001 Folter auch an deutschen Staatsbürgern ebenso wie CIA und andere NATO-Geheimdienste u. a. nach Syrien ausgelagert hatte, von Anfang an dabei. Erklärtes Ziel waren der Sturz der Regierung von Baschar Al-Assad und danach eine geopolitische Umordnung der Region, nicht zuletzt die Schwächung Russlands.

Sie sind auf der Verliererstraße…

und begleiten jeden weiteren Schritt rückwärts mit Greuelpropaganda, insbesondere in der Bundesrepublik im Stil von Anno 1944: »Die Russen kommen«. Das ist Chefsache: Am ersten Arbeitstag nach ihrem Urlaub ließ die deutsche Kanzlerin ihren Pressesprecher ausrichten, es handele sich beim russischen Vorgehen um »Zynismus«.

An den Tatsachen ändert solches »Haltet den Dieb!« westlicher Staatsterroristen nichts. Sie unterstützen weiterhin die Dschihadisten und schaffen die »Fluchtursachen«, die ihnen angeblich Sorgen bereiten.

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Von Putschen und Demokratien

Was allerdings dabei stets verleugnet wird ist, dass der „Jüdische Staat“ diesen „Terror“ doch selbst erzeugt hat durch Jahrzehnte der Vertreibung, Besatzung und ethnischen Säuberung eines Volkes, durch ständige Angriffe auf Nachbarstaaten, und das Hinwegsetzen über territoriales Recht und auf Unversehrtheit der Grenzen und der Missachtung von Menschen- und Völkerrechtsverbrechen.

putschenVon Putschen und Demokratien

Von Evelyn Hecht-Galinski

Quelle: Sicht vom Hochblauen vom 20. Juli 2016

Wie schützt man sich vor Ausnahmezuständen, die nichts anderes im Sinn haben, als unsere Rechte und Freiheit einzuschränken? Tatsächlich sollte unser aller Sorge sein, uns nicht durch vermeintlichen Terror zu hilflosen Opfern von Demokratieverlusten werden zu lassen. Was momentan in Frankreich geschieht, ist ein erschreckender Wettlauf von Aufhetzung und vermeintlicher Werte, die nur wir, also die „christlich-jüdische Wertegemeinschaft“ verkörpern. Wie Ministerpräsident Valls versuchte, sofort nach dem schrecklichen Anschlag von Nizza die Aufmerksamkeit auf den Islamismus zu lenken, weg von Sicherheitslücken und Versagen der Sicherheitskräfte und den Täter als „kurzfristig“ zum Islamisten geworden, machen wollte nachdem ihm kein islamistischer Hintergrund zu beweisen war, ist schon mehr als befremdlich. Ließ er sich dabei vielleicht von seiner jüdischen Frau beeinflussen? (1)

Der Wahlkampf, der in Frankreich tobt, hat eine erschreckende Wendung genommen: es ist ein Wettlauf der Scharfmacher, die sich gegenseitig überbieten im Anti-Terror-Kampf und dem Versuch, sich mit Hilfe des IS zu profilieren, anstatt einmal die wirklichen Hintergründe zu beleuchten, die in der Ausgrenzung, ja der Missachtung einer Gesellschaft von Franzosen mit nordafrikanischen Wurzeln, die fast chancenlos und benachteiligt sind, und die man als nicht sozialisierbar abstempelt, liegt. Solche Zustände als Wurzeln allen Übels fördern Kriminalität und Extremismus. Wenn davon auch noch psychisch kranke Menschen betroffen sind, dann ist das eine doppelt gefährliche Richtung. Wenn also französische Politiker wie Valls und Kollegen versuchen, durch blinden Aktionismus Honig zu saugen, um den Front National von Marie Le Pen noch rechts zu überholen, so ist der Faschismus nicht mehr weit. Hüten wir uns auch davor, uns von französischen Politikern immer weiter in Kriege ziehen zu lassen. Schon fordert der französische Präsidentschaftsanwärter Alain Juppe von der deutschen Bundesregierung, eine militärische Beteiligung am Syrien-Einsatz gegen den IS zu prüfen. Frankreich versucht mit aller Gewalt mit Kriegseinsätzen und seinen vermeintlichen Erfolgen von den katastrophalen Zuständen in Frankreich abzulenken. Auch die Verlängerung des Ausnahmezustands und die drei neuen Anti-Terror-Gesetze, sowie der Aufruf des Innenministers Cazeneuve an alle „patriotischen Bürger“, sich zum freiwilligen Reservedienst bei den Sicherheitskräften zu melden, lässt die schlimmsten Befürchtungen wach werden. (2)

Während im „Jüdischen Staat“ alle demokratischen „Werte“ seit Jahrzehnten ungestraft missachtet werden, hat man hier bei uns in Erdogan und Putin zwei monströse Feindbilder geschaffen, zwei „Medien-Monster“, als Zielscheibe allen Übels. Alles was „Zar Putin“ und „Sultan Erdogan“ machen, ist das Böse schlechthin.
In deren Schatten genießen Netanjahu und der „Jüdische Staat“ den Sonderstatus der „besonderen Verantwortung“, und werden inzwischen als Vorbild im „Kampf gegen den Terror“ gepriesen, weil die Besatzer unter täglicher „Bedrohung“ lebten und große Erfahrung in deren Abwehr hätten.
Was allerdings dabei stets verleugnet wird ist, dass der „Jüdische Staat“ diesen „Terror“ doch selbst erzeugt hat durch Jahrzehnte der Vertreibung, Besatzung und ethnischen Säuberung eines Volkes, durch ständige Angriffe auf Nachbarstaaten, und das Hinwegsetzen über territoriales Recht und auf Unversehrtheit der Grenzen und der Missachtung von Menschen- und Völkerrechtsverbrechen.

Diese reiche Erfahrung an Unterdrückung und Repressalien dürfen doch nicht als Vorbild für Deutschland oder Frankreich gelten. Denn noch setzen die Polizei in Deutschland und Frankreich das Recht durch, anstatt Unrecht wie im „jüdischen Staat“. Und jetzt fordert auch noch der berüchtigter israelische Sicherheitsexperte und frühere Militär-Attache Nizan Nuriel, dass die Europäer die Entscheidung treffen sollten, ob sie zuerst die Menschenrechte achten, oder lieber das Recht auf Leben! Was hier geschieht, ist eine ganz neue Strategie der israelischen Think Tanks, der Hasbara Propaganda, im Kampf für ein Groß-Israel. Denn durch den Wegfall der Menschenrechte will man die Europäer zu noch größeren Unterstützern der illegalen Besatzung Palästinas machen, die alles mitmachen, um sich vermeintlich zu schützen. Natürlich immer unter dem Deckmäntelchen des eigenen Schutzes im Anti-Terrorkampf. Wollen wir das wirklich: israelisches Unrecht, von der Lizenz zum Töten bis zu illegalen Morden, Angriffskriegen, Beton-Apartheidmauern, massive Metallabsperrungen und neuerdings auch der virtuelle Krieg, der bei Facebook Terroristen jagen will? So hat es der „jüdische Staat“ verstanden“, immer wieder mit den gleichen Phrasen von „einziger Demokratie im Nahen Osten“, Palästinenserstaat und Rückzug auf die Grenzen von 1967, sowie Jerusalem als „ewig ungeteilte Hauptstadt“, sich in den Kreis der christlichen Werteheuchler unter mehr als fragwürdiger Unterstützung der EU und der USA als festes Mitglied der Anti-Terror-Koalition, der „Guten“, zu etablieren, wobei die „Besatzung“ nie ein Thema war (3) (4)

Wieder einmal hat es das Netanjahu-Regime geschafft, abzulenken von einem neu beschlossenen NGO-Gesetz, das den „Jüdischen Staat“ auf eine Stufe mit Ägypten, Russland und der Türkei stellt. In keinem anderen westlichen Land gibt es ein vergleichbares Gesetz. Die Botschaft dieses neuen NGO-Gesetzes ist allein zum Zweck der Einschüchterung all jener Kräfte und Organisationen, die nicht im rechtsradikalen zionistischen Dunstkreis stehen, sondern sich für ein Ende der illegalen Besatzung Palästinas, für Menschenrechte und mehr Gerechtigkeit einsetzen. Dieses Gesetz trifft also nur kritische Nichtregierungsorganisationen, die Spendengelder von ausländischen Institutionen erhalten, während rechtsextreme, regierungsfreundliche Organisationen undeklarierte ausländische Unterstützung erfahren. (5)

Auch die provokanten Genehmigungen für unzählige neue Siedlungen durch das Netanjahu-Regime sind dadurch völlig in den Hintergrund getreten, was konnte diesem Regime besseres passieren, als so von seinen Handlungen im Dienste der illegalen Besatzung Palästinas als dem Endziel der Judaisierung Palästinas abzulenken? (6)

Derzeit steht Netanjahu wegen Korruptionsvorwürfen unter Beschuss, für ihn und seine Frau kein ungewöhnlicher Zustand, so zog er es vor, nach Afrika zu reisen um dort „Technologien und Sicherheit“ zu verkaufen und über die Rücksendung von afrikanischen Flüchtlinge zu verhandeln. Obwohl sich Israel und die Türkei versöhnten, allerdings auf Kosten von Gaza, konnte der „starke“ Erdogan kein Ende der Gaza-Blockade erreichen, nur ein Hilfsschiff für Gaza mit kleinen Lieferungen. Kein guter Deal für Palästina! Auch wenn Netanjahu ankündigte, dass die „Normalisierung“ der Beziehungen trotz Putschversuchs weiter geht, (wie großherzig!), um dann gleich im selben Atemzug die Palästinensische Autonomiebehörde unter Präsident Abbas für eine Verherrlichung des Terrorismus anzugreifen. (7) (8)

Auch die US-Demokraten verweigerten, sich für Palästina einzusetzen, auch dies ein weiterer schwarzer Tag für Palästina, der nichts Gutes bedeutet für die Zukunft, auch nach den US-Wahlen, der Entscheidung zwischen Pest und Cholera, zwischen Clinton und Trump! (9)

Während das ägyptische Putsch-Regime unter al-Sisi als demokratischer Partner, Friedensstifter und Vermittler für Palästina hochgelobt wird und SPD-Wirtschaftsminister und Vizekanzler Gabriel den mehr als umstrittenen Machthaber al-Sisi einen „beeindruckenden Präsidenten“ nannte, obwohl dieses Land seit der Machtergreifung dieses Regimes täglich mutmaßliche Regimegegner verschleppt, foltern lässt, durch Menschenrechtsverletzungen Aufsehen erregt, unter dem Deckmantel des Anti-Terror-Kampfes rücksichtslos alle Gegner zum Schweigen bringt, sowie den demokratisch gewählten Präsidenten Mursi einkerkerte, schweigen dieselben, die immer zur Stelle sind, wenn es gilt, Putin oder Erdogan zu diffamieren.(10) (11) (12)

Mag man zu Erdogan stehen wie man will, Tatsache ist doch, dass der Putsch gegen einen demokratisch gewählten Präsidenten zu Recht kritisiert wurde – im Gegensatz zu Ägypten. Tatsache ist auch, dass sich der gescheiterte Putsch gegen Erdogan als einen Sieg der Demokratie und des Volkes zeigte, das sich gegen diesen Putschversuch auf die Straße stellte, um die Freiheit zu verteidigen, die jetzt natürlich auch eingefordert werden sollte und nicht in hektischer Rache untergehen sollte. Positiv zu bewerten ist auch, dass sich alle rivalisierenden Parteien im türkischen Parlament, trotz unterschiedlicher Positionen, solidarisch gezeigt hatten im Kampf gegen die Putschisten. Nachdem das System Erdogan stabiler denn je ist, sollte es in eine demokratische Zukunft geführt werden. Erdogan sollte endlich eingebunden werden, auf gleicher Augenhöhe. Nicht Dämonisierung und Beleidigung ist hilfreich, sondern gute Zusammenarbeit mit einem Staat, der im Gegensatz zu Europa Millionen von Flüchtlingen aufgenommen hat und demnächst sogar 300.000 syrische Flüchtlinge einbürgern möchte.

Soviel von Putschen und Demokratien…